2005/06/09 - Paradiso; Amsterdam, NL

Konzert im Live Music Archiv:
http://www.archive.org/details/bc2005-06-09.flac16

-Absinth-

Die grüne Fee war mit dem Zug gekommen.
Griesgrämig schaute sie sich um, während ausgemergelte Präriebüsche über den einsamen Bahnhof wehten. Mütter holten ihre verdreckten und mies erzogenen Kinder von der Straße, während der kettenrauchende Totengräber sich begierig die staubigen Hände rieb. Unwillkürlich glitt ihre Hand zu dem abgewetzten Halfter, dass ihrer wohlgeformten Hüfte schmeichelte und das Gefühl der verchromten Waldorf & Staettler unter ihren schwieligen Händen gab ihr ein Gefühl von Zuversicht. Amsterdam.
Mal wieder…
Hier hatte sie noch eine Rechnung offen.

Lassen wir das…

Mit einem hässlichen weißen und obszön runden Hochgeschwindigkeitszug der Bundesbahn sauste ich schon schlaftrunken durch die Lande, als gottesfürchtige Leute noch in den Federn lagen. Um 10:30 kam ich dann in diese Stadt, in der es zu viele Brücken und zu wenig sichere Fußwege gibt. Ich frühstückte mit einer Spießgesellin aus Zeiten, in denen ich noch zur Riege deutscher Edel-Schmarotzer zählte und sinnierte über Zeiten, an die ich mich kaum noch erinnern konnte. Erschlagen von einer Konversation, die wie eine Wagenladung Wackersteine schwerfällig dahin purzelte, legte ich mich in den Vondelpark um zumindest Teile meines zerrütteten Gemütes zu regenerieren.

Filmriss.

Die Gnade der Götter riss mich pünktlich aus dem sinnentleerten Herumliegen und katapultierte mich annähernd zeitgerecht zu dem Hotel, das Tearstain für unsere konspirative Zusammenkunft herbeiorganisiert hatte. Ein knappes Stündchen stand ich wie ein deplazierter und schlecht ernährter Türsteher vor dem Laden, bis mir der Gedanke kam, mal drinnen nach dem schon verlustig gegangen geglaubten Teerstein zu fragen. Der lag schon seit Stunden in seinem Kämmerlein und schmiedete, gehässig vor sich hin kichernd, illustre Pläne für den weiteren Abend. Gemeinsam rollten wir zum Paradiso. Zum Glück wurde an diesem Tag der öffentliche Nahverkehr der schäbigen Stadt bestreikt, so dass die Gefahr von einer dieser heimtückisch surrenden Straßenbahnen überfahren zu werden, recht unwahrscheinlich wurde. Die suizidalen Fahrradfahrer, die wie ein bekiffter Schwarm TIE-Fighter um uns rum schwirrten, sorgten allerdings dafür, dass das Spazierengehen in Amsterdam nicht vollends zu einer langweiligen Rentnerfreizeit verkam. Die Einkehr in eine pseudo-moderne Kaffeestube schälte uns aus der dumpfen Hülle, die diese mehr oder weniger willkommene Mittagspause um uns gelegt hatte und im Glanze der temporären Wiedergeburt kamen die Honeyspiders heran geschwebt. Same place, same time, same desperate exitement. Das Warten auf die abendliche Bescherung begangen wir stilvoll in einem von der Sonne verwöhnten Straßencafé. Schlecht gezapfte Biere flossen mit den üppigen Sonnenstrahlen um die Wette und beglückten mich mit einer geradewegs ordinären Bräune auf der Stirn. Diesmal ging es um eine Form der Vergangenheitsbewältigung, der ich mich deutlicher zu erinnern vermochte…

Schnitt.

Die Türen des Paradiso klappten auf und forderten einen weiteren beachtlichen Zoll. Als ob die Karte nicht schon teuer genug gewesen wäre… Dafür verzichtete man darauf, uns eingehend und anzüglich zu befühlen, wie es bei deutschen Konzerten stets Brauch ist. Schade, man hätte ganze Tierarztpraxen dort hineinschleppen können, aber in unserem Fall war das Schmugglergut nur ein armseliger Becher burgerking’schen (Nichtmehrganz-) Heißgetränks, den Teerstein geistesgegenwärtig umklammerte. Tearstain und die Honeyspiders nahmen ihre Stammplätze auf der Empore oberhalb der rechten Bühnenseite ein, wo schon wenig später Gliss ihre recht ansprechenden Klänge in die sich füllende Halle hinaus plärrten. Die Entscheidung, ob ich das Konzert lieber von der honeyspider’schen Loge oder aus ebenerdiger Lage, wo der gemeine Pöbel residierte, anschauen sollte, wurde mir von einigen schlecht erzogenen Holländern abgenommen, die sich auf meinen Stuhl setzten, als ich die Biervorräte auffüllen ging. Hinunter ging’s also in Schwaden von Marihuanazigaretten und dem Schweiß ungewaschener Biertrinker, um zu erleben, wie der Leibhaftige und seine aktuellen Apostel eine Bühne betraten, die auf dem ersten Blick dem Katalog eines Sanitärausstatters entsprungen zu sein schien.

Setlist:

  • Bit 4
  • Johanna
  • I'm Ready
  • Pretty, Pretty Star
  • Mina Loy (M.O.H.)
  • To Love Somebody
  • Sorrows (In Blue)
  • Strayz
  • A100
  • The Camera Eye
  • Now (And Then)
  • Walking Shade
  • Mini
  • Sitting On Top Of The World
  • All Things Change

Encore 1:

  • I'm A King Bee
  • It's A Long Way To The Top (If You Wanna Rock 'n' Roll)

Encore 2:

  • Bit 5

Die Badezimmerkacheln flackerten in allen Farben des Regenbogens, als die Predigt begann. Es fiepte und klickte und schnarrte und klopfte und über allem thronte dieser entartete Gesang eines Mannes, der sich, ohne zu übertreiben, als der Kantor meines kläglichen Daseins bezeichnen könnte.

Corgan.

Da war er wieder.

Größer als je zuvor, in bewährter Nosferatu-Pose, legte er es darauf an, dass armselige Volk zu seinen Füßen in die Umarmung der Zukunft zu treiben. Und das ist ihm gelungen… Es war durchdacht, es war geschliffen, es war steril und von einer bedrohlichen Erotik. Es war kontrolliert, gebändigt, doch mit dem Vorgeschmack einer unterschwelligen Bedrohlichkeit. Eine Bestie, die alles verschlingt, wenn man sie nicht besänftigt. Ich genoss jede Sekunde der hochwertigen Darbietung, die, wäre sie nicht von einigen erheiternden Ausfällen technischerseits aufgelockert worden, zu einer unheimlich entrückten Darbietung verkommen wäre. Die Show war ein Gesamtkunstwerk hochwertiger Musik und einer atemberaubenden Optik (die Beste seit den MCIS-Konzerten), der es allerdings an Seele fehlte. Es war inszeniert, großartig inszeniert, keine Frage, aber auf eine Art, die mich noch jetzt, beim Schreiben dieses hirnanmputierten Textes, in Verwunderung versetzt. Hervorragende Darbietungen spülten auf mich herab (‚The Camera Eye’, ‚Mini’, ‚All Things Change’), doch meine Begeisterung war verhalten, so als fehle da noch etwas, was das Erlebte krönen könnte. Ich weiß es nicht zu umschreiben und ich bin mir noch immer nicht so recht sicher, was ich vom Erlebten halten sollte, aber ich war mir sicher, dem definitiv merkwürdigsten Corgan-Konzert ever beigewohnt zu haben. Wo zum Henker hat der Kerl seine Seele verkauft? Hier zumindest nicht. Das Publikum war zwar brav und offensichtlich aufgeschlossen, aber nicht wirklich begeistert. Es wirkte merkwürdig gleichgültig…

Als ich mich von gebeutelten Massen willig zur Tür hinaus schubsen ließ, wusste ich kein rechtes Fazit zu ziehen (das kann ich irgendwie immer noch nicht…), als ich da in der lauen amsterdamschen FutureEmbrace-Nacht stand. Meine Glaubensgenossen sammelten sich und gemeinsam flanierten wir noch etwas durch die Straßen, in komplizierten Sätzen mit außergewöhnlich langen Pausen dem soeben Erlebten huldigend. Immerhin waren wir uns einig (Tearboy und ich, denn die Honeyspiders hatten ja schon tags zuvor die Gent-Show gesehen), dass wir so was bisher noch nicht gesehen hatten.

All Things Change.

Nachdem wir nach einem weiteren Kaltgetränk auf der zugigen Terrasse eines netten Grachten-Café die Honeyspiders verabschiedeten, klopften wir noch beim blauen Vogel an. Schall und Rauch. Auf dem merkwürdigen Rückweg standen wir, wie Außerirdische glotzend und mit zuckenden Aneurysmen, am Tresen eines Südländers, der „die umständlichste Art Döner zuzubereiten“ (Tearstain) zelebrierte. Während ich, zurück im Hotel, noch darüber sinnierte, wie sich eine waschechte 35€-Übernachtung ohne Frühstück wohl anfühlen würde, gingen im absinth’schen Hirnstübchen die Lichter aus.